Indien – Das Land der Gegensätze
Bereits vor meiner Landung am Indira Gandhi International Airport komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Rund 100 Meter über der Landebahn sehe ich, was ich zuvor noch nie gesehen hatte - eine riesige Wolke grauen Smogs, der den tristen Asphalt sowie die darauf lebenden Menschen komplett unter sich begräbt.
Während meiner Urlaubsvorbereitungen fand ich heraus, dass Indien mit über 1,2 Milliarden Einwohnern nach China das bevölkerungsreichste Land der Welt ist. Die Einwohnerzahl Delhis: über elf Millionen. Die Einwohnerzahl Hamburgs: 1,8 Millionen. Vergleiche ich die Zahlen mit der Größe der Städte komme ich zu dem Ergebnis: In Delhi drängeln sich rund sechs Mal so viele Menschen wie in der zweitgrößten Stadt Deutschlands – auf einer deutlich kleineren Fläche. Und das konnte ich während meiner 15-tägigen Reise durch den indischen Bundesstaat Rajasthan nicht nur sehen, sondern auch riechen, fühlen und hören.
Noch während ich mit dem Bus zu meinem ersten Hotel fahre bin ich fasziniert und schockiert – gleichermaßen. Auf den Straßen herrscht ein Hupkonzert, das jede vorbeifahrende Hochzeitsgesellschaft unbemerkt ließe. Bleiben wir mit dem Bus an einer Ampel stehen, schieben sich Massen an Turbanen, Saris und Turnschuhen an uns vorbei. Unter den Brücken stehen Händler, die Handys und Speicherkarten verkaufen. Daneben liegen Kühe, die genüsslich auf einer Plastiktüte kauen.
Hupkonzert und Vogelgezwitscher
„Die weißen Kühe sind heilig“, erklärt unser Reiseführer. „Und ein echtes Problem.“ Sie liefen frei auf den Straßen herum, blockierten den Verkehr und vermehrten sich unkontrolliert. Begegnen wir ihnen auf der Straße, sollen wir vorsichtig sein, mahnt unser Reiseleiter. „Trotz Heiligsprechung können Sie euch ganz schön auf die Hörner nehmen."
Im Hotel angekommen konfrontiert mich das Servicepersonal mit einer völlig anderen Welt. Statt getunter Autohupen höre ich das Gezwitscher indischer Halsbandsittiche und das Gurren gewöhnlicher Tauben. Statt Abgasen rieche ich trockene Erde. Und von oben rieseln Rosenblättern auf mich herab. Nach dieser märchenhaften Begrüßung unter dem Torbogen des Heritage Hotels „Alwar Bagh“ reichen uns fröhliche Inder Rosenwasser und malen uns rote Bindis auf die Stirn. „Damit heißen sie euch willkommen“, erklärt unser Reiseführer.
Marmeladentoast und Puri mit Dhal
Nach meiner ersten Nacht in einem riesigen Zimmer mit weißen Laken, einem antiken Massivholzschrank und zahlreichen mir unbekannten Insekten hinter der Gardine, genieße ich mein erstes Frühstück: mit dampfenden Bohnen, trockenem Toastbrot mit Marmelade und Puri mit Dhal - einem Linsengericht mit Teiggebäck. Dazu gibt es jede Menge Früchte, Tomaten und Salat, die wir nicht essen dürfen.
„Mindestens ein Mal werdet Ihr Magen-Darm-Probleme bekommen“, versichert uns unser Reiseführer. „Das ist bei jeder meiner Reisen so.“ Essen wir jedoch Gemüse und Salat, die mit indischem Wasser gesäubert wurden, säßen wir deutlich häufiger auf der Toilette. Oder besser gesagt, stehen über ihr. Denn in Indien dominiert vielerorts noch immer das Plumpsklo.
Auf den Spuren von Sittichen und Tigern
Nach der Einführung über indische Hygienestandards steht unser erster Ausflug an: Safari im Sariska Nationalpark. Mit offenen Jeeps begeben wir uns auf die Suche nach Wasserbüffeln, Affen, Hyänen und Tigern. Und sehen Wasserbüffel, Affen, Hyänen und Tigertatzen im staubigen Boden. Einige von uns konnten sogar den Schwanz eines Pumas im Gebüsch verschwinden sehen. Meinten Sie zumindest.
Nach diesem tierischen Vergnügen begeben wir uns zurück in die Zivilisation. In der Wüstenstadt Bikaner besichtigen wir zahlreiche Havelis. Erbaut von einst reichen Kaufmännern, versprühen die feudalen Herrenhäuser einen Charme, der mich ins Träumen versetzt. An den Hauswänden sehe ich Malereien mit Finesse, Anmut und einer Farbenvielfalt, wie ich sie im Louvre nicht finden könnte. Götter wie der blaue Krishna und der elefantenköpfige Ganesha erzählen mir Geschichten von Liebe und Trauer; von Religion und Tradition. Und sind Spiegelbilder der einstigen und heutigen Kulturen.
Prachtvolle Festungen und zerfallene Havelis
Doch eben jene reich verzierten Kaufmannshäuser stehen kurz vor dem Verfall. Der Grund: Die Häuserfassaden werden als Toilettenwände missbraucht. Der Putz bröckelt ab. Die Farben verblassen. Und es wird nichts dagegen getan.
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Ein völlig anderes Bild zeigt sich uns in Rajasthans Palästen und Festungen. Sie gelten als die prachtvollsten und schönsten ganz Indiens und sind Zeugnis einer Ära, in der Reichtum regierte. So schmücken muslimische Blumenmalereien, Spiegelmosaike und bunt gemalte Pfaue die Festsäle der königlichen Residenzen. In der Mitte funkelt meist ein Thron aus Gold und Edelsteinen.
Taj Mahal: Liebeserklärung oder Ort des Verbrechens?
Jener Reichtum aus früheren Zeiten musste jedoch auch beschützt werden. Durch schwere Türen, mit Eisenstacheln bestückt. Reichten diese nicht aus, um das Fort vor betrunken gemachten Elefantenbullen zu schützen, finden wir neben diesen Toren zuweilen kleine Handabdrücke in die Häuserwand gedrückt. Frauen, Mütter und Töchter ließen sich lieber zusammen mit ihrem Herrscher auf dem Scheiterhaufen verbrennen, als bei einer Übernahme der Festung in die Hände des Gegners zu fallen. Die zierlichen Handabdrücke in der Wand sollen uns an ihren Mut erinnern. Sie sind alles, was von ihnen übrig blieb und gelten als Zeichen für die stattgefundene Sati - die so genannte Witwenverbrennung nach dem Sturz des Moguls.
Als eine ähnlich gruselige Liebeserklärung empfinde ich auch das Taj Mahal in Agra, welches wir kurz vor Ende unserer Reise besichtigen. Erbaut vom Großmogul Shah Jahan als Andenken an seine verstorbene Hauptfrau Mumtaz Mahal, gilt das Taj Mahal weltweit als Symbol für die ewige Liebe. Zahlreiche Frauen wünschen sich einmal so geliebt zu werden, dass man auch ihnen ein riesiges Mausoleum aus Marmor und Edelsteinen erbaut. Was sie nicht wissen: Um eben jene Lieberklärung einzigartig zu belassen und einen Nachbau zu verhindern, ließ der trauernde Großmogul den Erbauern das Augenlicht nehmen und die Arme abhacken. So jedenfalls besagt es die Legende, die nur eine von vielen ist.